Beschluss vom 14.02.2025 -
BVerwG 4 BN 24.24ECLI:DE:BVerwG:2025:140225B4BN24.24.0
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Zitiervorschlag
BVerwG, Beschluss vom 14.02.2025 - 4 BN 24.24 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:140225B4BN24.24.0]
Beschluss
BVerwG 4 BN 24.24
- OVG Greifswald - 27.02.2024 - AZ: 3 K 543/21 OVG
In der Normenkontrollsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 14. Februar 2025
durch die Vorsitzende Richterin am Bundesverwaltungsgericht Schipper,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Seidel und
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Dr. Stamm
beschlossen:
- Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 27. Februar 2024 wird zurückgewiesen.
- Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
- Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 30 000 € festgesetzt.
Gründe
1 Die Antragstellerin wendet sich gegen einen (Änderungs-)Bebauungsplan, der u. a. die Festsetzung urbanes Gebiet (MU1 und MU2) trifft. Das Oberverwaltungsgericht hat den Plan insgesamt für unwirksam erklärt. Die Festsetzung urbanes Gebiet sei wegen eines "Etikettenschwindels" nicht erforderlich im Sinne von § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB. Die Voraussetzungen einer Nutzungsmischung, wie sie das urbane Gebiet nach § 6a Abs. 1 BauNVO kennzeichne, seien weder bei isolierter Betrachtung der Bereiche MU1 und MU2 noch bei einer Gesamtbetrachtung erfüllt. Nach der Planbegründung und den textlichen Festsetzungen strebe die Antragsgegnerin im MU1 nur Nutzungen an, die in einem allgemeinen Wohngebiet nach § 4 Abs. 1 bis 3 BauNVO zulässig wären, vorwiegend Wohnnutzung (UA S. 24 ff.). Im MU2 sei ausschließlich ein gewerblich genutztes Parkhaus zu vornehmlich touristischen Zwecken vorgesehen. Wohnnutzung sei dort nach den textlichen Festsetzungen ausgeschlossen, andere urbane Nutzungen nicht gewollt. Dafür sei ein urbanes Gebiet mit Blick auf § 12 BauNVO nicht erforderlich (UA S. 26 ff.). Auch bei einer Gesamtbetrachtung von MU1 und MU2 ziele die Planung nicht darauf, ein Gebiet mit dem Charakter eines urbanen Gebiets zu schaffen. Die Festsetzung diene vielmehr - wie die Planungshistorie belege - nur dazu, die im MU1 gewünschte Wohnbebauung angesichts der Lärmbelastung durch Straßen- und Schienenverkehr wegen der höheren Immissionsrichtwerte auch ohne aktive Schallschutzmaßnahmen verwirklichen zu können (UA S. 29 f.).
2 Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Die dagegen gerichtete, ausschließlich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde der Antragsgegnerin hat keinen Erfolg.
3 Grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine Rechtssache, wenn in dem angestrebten Revisionsverfahren die Klärung einer bisher höchstrichterlich ungeklärten, in ihrer Bedeutung über den der Beschwerde zugrundeliegenden Einzelfall hinausgehenden, klärungsbedürftigen und entscheidungserheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts (§ 137 Abs. 1 VwGO) zu erwarten ist. In der Beschwerdebegründung muss dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO), also näher ausgeführt werden, dass und inwieweit eine bestimmte Rechtsfrage des revisiblen Rechts im allgemeinen Interesse klärungsbedürftig und warum ihre Klärung in dem beabsichtigten Revisionsverfahren zu erwarten ist (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. Mai 2024 - 4 BN 30.23 - juris Rn. 2 m. w. N.). Daran fehlt es.
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1. Die Antragsgegnerin wirft als grundsätzlich klärungsbedürftig auf,
ob die durch § 6a Abs. 1 Satz 1 BauNVO vorgegebene und den Charakter des urbanen Gebiets prägende Nutzungsmischung − trotz § 6a Abs. 1 Satz 2 BauNVO − für die städtebauliche Erforderlichkeit der Gebietsfestsetzung gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB voraussetzt, dass die Festsetzungen in einem urbanen Gebiet stets einen Umfang gewerblicher Nutzungen ermöglichen, der über den nach Maßgabe des § 4 BauNVO in einem allgemeinen Wohngebiet möglichen Umfang gewerblicher Nutzungen hinausgeht.
5 Bei verständiger Würdigung der Beschwerdebegründung zielt die Frage darauf, ob § 1 Abs. 3 BauGB verlangt, dass die in einem urbanen Gebiet − neben vorwiegender Wohnnutzung − angestrebte Gewerbenutzung in ihrem Umfang oder ihrer "Bandbreite" über das in einem allgemeinen Wohngebiet nach § 4 BauNVO zulässige Maß hinausgeht.
6 Diese Frage rechtfertigt die Zulassung der Revision nicht. Sie kann, soweit sie allgemeiner Klärung zugänglich ist, auf der Grundlage der vorhandenen Rechtsprechung und mit Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Norminterpretation beantwortet werden, ohne dass es der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Mai 2024 - 4 BN 26.23 - ZfBR 2024, 432 Rn. 6 m. w. N.).
7 Das urbane Gebiet nach § 6a BauNVO ist durch Art. 2 Nr. 3 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2014/52/EU im Städtebaurecht und zur Stärkung des neuen Zusammenlebens in der Stadt vom 4. Mai 2017 (BGBl. I S. 1057) eingefügt worden. Mit der neuen Baugebietskategorie soll den Kommunen ein Instrument zur Verfügung gestellt werden, mit dem sie planerisch die nutzungsgemischte Stadt der kurzen Wege verwirklichen können. Es soll eine räumliche Nähe von wichtigen Funktionen wie Wohnen, Arbeiten, Versorgung, Bildung, Kultur und Erholung bei stärkerer Verdichtung ermöglichen. § 6a Abs. 4 BauNVO enthält - über die bestehenden Möglichkeiten des § 1 Abs. 4 bis 10 BauNVO hinaus - verschiedene Differenzierungsmöglichkeiten (BT-Drs. 18/10942 S. 32, 56; BT-Drs. 18/11439 S. 6). Parallel dazu ist die TA Lärm angepasst worden und für das urbane Gebiet unter Nr. 6.1 ein Immissionsrichtwert von 63 dB(A) tags bestimmt worden, der 8 dB(A) über dem für allgemeine Wohngebiete liegt.
8 Nach seiner allgemeinen Zweckbestimmung (§ 6a Abs. 1 Satz 1 BauNVO) ist das urbane Gebiet von einer Mischung gleichrangiger Nutzungen geprägt. Diese muss nicht gleichgewichtig sein (§ 6a Abs. 1 Satz 2 BauNVO); der Gebietscharakter ist aber nur gewahrt, wenn jede Hauptnutzung das Gebiet mitprägt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Juni 2023 - 4 BN 33.22 - ZUR 2023, 612 Rn. 12; Blechschmidt, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand September 2024, § 6a BauNVO Rn. 14; Bönker, in: Bönker/Bischopink, BauNVO, 3. Aufl. 2024, § 6a Rn. 74; Schimpfermann/Stühler, in: Fickert/Fieseler, BauNVO, 14. Aufl. 2023, § 6a Rn. 13; Uechtritz, BauR 2018, 1631 <1638>). Unter welchen Umständen trotz des Übergewichts einer Nutzung noch von einer das urbane Gebiet prägenden Nutzungsmischung auszugehen ist, entzieht sich einer fallübergreifenden Beantwortung (BVerwG, Beschluss vom 13. Juni 2023 - 4 BN 33.22 - a. a. O.). Das allgemeine Wohngebiet dient dagegen vorwiegend dem Wohnen (§ 4 Abs. 1 BauNVO). Es wird als kollektive Wohngemeinschaft mit einem grundsätzlichen Ruhebedürfnis begriffen und unterscheidet sich nur graduell, nicht aber prinzipiell von einem reinen Wohngebiet. Die allgemein oder ausnahmsweise zulässigen Nichtwohnnutzungen sind dem Wohnen nicht gleichwertig oder gleichgewichtig wie in den Mischgebieten. Die Wohnnutzung muss vorherrschen, Wohngebäude und Wohnungen im Vergleich zu anderen Nutzungen zahlenmäßig überwiegen und den Wohncharakter des Gebiets auch unter Berücksichtigung der anderen zulässigen Anlagen erkennbar prägen (BVerwG, Urteil vom 18. Oktober 2017 - 4 CN 6.17 - Buchholz 406.12 § 11 BauNVO Nr. 37 Rn. 24 f. m. w. N.).
9 Durch die allgemeine Zweckbestimmung wird der Charakter des jeweiligen Baugebiets eingrenzend bestimmt; nach dem Baugebietstyp richten sich die immissionsschutzrechtlichen Schutzmaßstäbe und die konkrete Gebietsverträglichkeit von Nutzungsarten, die in verschiedenen Baugebieten zulässig sind (BVerwG, Beschluss vom 28. Februar 2008 - 4 B 60.07 - Buchholz 406.12 § 4 BauNVO Nr. 19 Rn. 6 m. w. N.). Aus der unterschiedlichen Zweckbestimmung der beiden Baugebietstypen allgemeines Wohngebiet und urbanes Gebiet folgt, dass die Festsetzung eines urbanen Gebiets nicht erforderlich ist, wenn die nach den Planungsvorstellungen der Gemeinde angestrebte Mischung aus Wohn-, gewerblicher und sonstiger Nutzung nach Art und Umfang nicht über das in einem allgemeinen Wohngebiet nach § 4 BauNVO Zulässige hinausgeht, der Sache nach also ein Gebiet mit dem Charakter eines allgemeinen Wohngebiets geplant wird (vgl. Hornmann, in: Spannowsky/Hornmann/Kämper, BeckOK BauNVO, Stand Januar 2025, § 6a Rn. 25). Die Gemeinde verstößt daher mit der Festsetzung eines urbanen Gebiets gegen das Verbot des "Etikettenschwindels", wenn − wie hier nach den tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz − die Schutzwürdigkeit der Wohnnutzung mit Blick auf Lärmimmissionen gemindert werden soll, sie die diesem Gebietstyp eigene Nutzungsstruktur tatsächlich aber nicht anstrebt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Februar 2000 - 4 BN 1.00 - juris Rn. 10 <insoweit nicht abgedruckt in Buchholz 406.11 § 5 BauGB Nr. 11>; VGH Mannheim, Urteil vom 17. Mai 2013 - 8 S 313/11 - ZfBR 2013, 692 <694>).
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2. Die weitere Frage,
ob es sich bei den die Wohnnutzung nicht wesentlich störenden sozialen, kulturellen und anderen Einrichtungen im Sinne von § 6a Abs. 1 Satz 1 BauNVO um eine eigenständige Hauptnutzungsart handelt, so dass die städtebauliche Erforderlichkeit gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB für die Festsetzung eines urbanen Gebiets voraussetzt, dass die Realisierung von drei Hauptnutzungsarten − neben Wohnen und Gewerbe auch der genannten Einrichtungen − angestrebt wird, oder ob es sich bei den genannten Einrichtungen um eine mit dem Gewerbe gemeinsam zu sehende Hauptnutzung handelt, so dass zwei Hauptnutzungsarten − einerseits Wohnen und andererseits Gewerbebetriebe samt sozialer, kultureller und anderer die Wohnnutzung nicht wesentlich störende Einrichtungen − das urbane Gebiet gemäß § 6a Abs. 1 Satz 1 BauNVO prägen,
ist nicht entscheidungserheblich. Das Oberverwaltungsgericht hat zur Kenntnis genommen, dass streitig ist, ob es sich bei den in § 6a Abs. 1 Satz 1 BauNVO genannten sozialen, kulturellen und anderen Einrichtungen um eine eigenständige Hauptnutzungsart handelt oder diese Einrichtungen der Nutzungsart Gewerbe zuzuordnen sind (UA S. 19). Es hat sich insoweit aber nicht festgelegt, weil es hierauf nach seiner Rechtsauffassung nicht ankam. Für das Oberverwaltungsgericht war maßgeblich, dass die im MU1 geplante Kombination von Wohnen, gewerblichen Nutzungen und sozialen Einrichtungen dem Charakter eines allgemeinen Wohngebiets entspricht (vgl. UA S. 24, 26). Bei diesem rechtlichen Ansatz ist ohne Belang, ob soziale, kulturelle und andere Einrichtungen im Sinne von § 6a Abs. 1 Satz 1 BauNVO der Hauptnutzung Gewerbe oder einer eigenständigen (dritten) Hauptnutzungsart zuzuordnen sind.
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3. Die sinngemäß gestellte Frage,
ob die für die städtebauliche Erforderlichkeit im Sinne von § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB der Festsetzung eines urbanen Gebiets anzustrebende Nutzungsmischung voraussetzt, dass die einzelnen Hauptnutzungsarten des § 6a Abs. 1 Satz 1 BauNVO auch bei der Ausweisung von Teilbereichen das gesamte Gebiet maßgeblich mitprägen, obwohl die Nutzungsmischung gemäß § 6a Abs. 1 Satz 2 BauNVO nicht gleichwertig sein muss,
bedarf, soweit sie sich in verallgemeinerungsfähiger Weise beantworten lässt, nicht der Klärung in einem Revisionsverfahren.
12 § 1 Abs. 4 bis 10 BauNVO (sowie § 6a Abs. 4 BauNVO) ermöglicht der Gemeinde differenzierende Festsetzungen für die Feinsteuerung der nach dem Baugebietstypus zulässigen Nutzungen. Die allgemeine Zweckbestimmung des Gebiets muss dabei aber gewahrt bleiben. Anderenfalls wird die in § 1 Abs. 3 Satz 1 BauNVO geregelte Pflicht verletzt, im Bebauungsplan ein in § 1 Abs. 2 BauNVO bezeichnetes Baugebiet festzusetzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. April 2009 - 4 CN 5.07 - BVerwGE 133, 377 Rn. 9 m. w. N.). Macht die Gemeinde von der Gliederungsbefugnis nach § 1 Abs. 4 BauNVO Gebrauch, kann sie innerhalb desselben Baugebietes eine Verteilung der nach dem Baugebietstypus zulässigen Nutzungsweisen festsetzen. Dass dabei nicht jeder Teilbereich des so gegliederten Baugebietes - wird er für sich allein betrachtet - alle Anforderungen der allgemeinen Zweckbestimmung erfüllt, widerspricht dem nicht, solange das Baugebiet bei einer Gesamtbetrachtung noch seinen planerischen Gebietscharakter bewahrt (BVerwG, Beschluss vom 6. Mai 1996 - 4 NB 16.96 - Buchholz 406.12 § 1 BauNVO Nr. 22 S. 7). Dies gilt auch für das urbane Gebiet, für das die im Referentenentwurf noch vorgesehene explizite Vorgabe einer "kleinräumigen Nutzungsmischung" im Laufe des Normgebungsverfahrens wieder aufgegeben wurde (siehe dazu Köppen/Mitschang, BauR 2019, 754 <755>). Ob die allgemeine Zweckbestimmung des Gebiets in der Gesamtschau gewahrt ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls.
13 Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.